Mitten in Halle-Neustadt steht diese marode Platte. Obwohl der 18-Geschosser den Platz an der Neustädter Passage dominiert, scheinen vorbeieilende Passanten ihn nicht wahrzunehmen. Kein Wunder. Zu viele Jahre vergingen mit Querelen um die sogenannte Scheibe A. Und nichts tat sich. Da hat man sich mit der Zeit an den erbärmlichen Anblick gewöhnt. Jetzt ist der Betonklotz verhängt. Und es wächst die Hoffnung, dass der Lost Place bald zu neuem Leben erweckt wird.
Verhüllter Riese
Irgendwie erinnert das verhüllte Gebäude an ein Projekt des verstorbenen Verpackungskünstlers Christo. Weiße Bahnen rascheln leise im Wind. Sie verdecken den Blick auf den Baukörper der Scheibe A. So die Bezeichnung des 18-Geschossers. Die marode Platte ist eine von fünf identischen Hochhaus-Scheiben in Allbeton-Bauweise. Ein Patent aus Schweden. Von 1970 bis 1975 wurden die Scheiben A bis E im Zentrum von Halle-Neustadt errichtet. Hier wohnten vorzugsweise die Menschen, die ringsum in den Chemiekombinaten arbeiteten. Deshalb trug Deutschlands größte Planstadt der Moderne auch den Beinamen Chemiearbeiterstadt. 100.000 Einwohner sollten einmal in Halle-Neustadt leben. So war der Plan. Dann kam die Wende. Und mit ihr die Massenflucht aus der Musterstadt.
Nur eine der Scheiben wurde bisher vollständig saniert. Bei den anderen geht es schleppend voran mit Sanierung oder Verkauf. Auch bei der Scheibe A ist es so. Ein ewiges Hin und Her. Seit Jahrzehnten. Nun soll die marode Platte aufgepeppt werden zu einem modernen Büro-Hochhaus. Bis die ersten Schreibtische reingestellt werden, wird es allerdings noch etwas dauern.
Wanne grüßt vom Balkon
Als ich vor einiger Zeit die Scheibe A besuchte, verdeckte noch keine Plane den Blick auf den entkernten Wohnriesen. Da sah das Hochhaus aus wie ein ausgeweidetes Tier. Keiner der Vorbeieilenden schien das triste Gebäude wahrzunehmen, das einst Wohnstatt hunderter Menschen war. Einzig die Tauben, die durch kaputte Fensterscheiben ins Innere flatterten, freuten sich über den verlassenen Ort. Jede Verzögerung des Sanierungsbeginns war gewonnene Zeit, den nächsten Nachwuchs auszubrüten.
Eine vom Rost zerfressene Wanne grüßte damals noch im ersten Geschoss von einem Balkon ohne Brüstung. Was ziemlich krass aussah. Genau wie ihr blaugestrichener Doppelgänger in einer einstmals guten Stube in einer der unteren Etagen. Ein Scherzbold hatte sich die Mühe gemacht, die Wanne auf aufgetürmte Styropor-Platten zu wuchten. Warum auch nicht? Spaß muss sein. In einem anderen Zimmer bändigte Marilyn Monroe ihr hochflatterndes Kleidchen. Und mürrisch dreinschauende blaue Fische mit Kronen zogen an benachbarten Wänden ihre einsamen Runden. Die Scheibe A – ein Tummelplatz für Streetart-Künstler.
Lieber Gruß an Charlie
Crazy sahen die Zimmer aus, in denen knalliges Rot an den Wänden dominierte. Und weil das offensichtlich noch nicht verrückt genug war, hatten Vorwitzige auch noch die Fenster rot gestrichen. Und die Wände mit Weisheiten überzogen. In einem Raum prangte ein ganzer Schwarm roter Sterne auf schwarz gestrichenen Wänden. Einer hatte offensichtlich nicht mehr drauf gepasst. Er zierte einsam eine weiße Tür.
Eine verdiente Entspannung fürs gestresste Auge waren die Blumenwände. Und auch bei den vielen aufgeklebten Bildern gab es was zum Gucken. Ob die Wand-Deko noch von den Mietern stammte? Oder hatten sich Sprayen hier ausgetobt? Diese Fragen ließen sich nicht beantworten. Die Antworten waren auch nicht wichtig. Also dann schnell noch einen lieben Gruß an Charlie Chaplin auf weißem Grund, und weiter ging es mit der Erkundungstour durch Scheibe A.
Violette Korridore
Direkt schön wirkten die langen Korridore. Das wenige Licht, das hereindrang, sorgte für spannende Violett- und Gelbtöne. Auch in Küche und Bäder noch ein neugieriger Blick. Langsam dämmerte es. Draußen, in den umliegenden Hochhäusern, gingen die ersten Lichter an.
Farn als neuer Mieter
Ein Farn leistete Schwerstarbeit. Es mühte sich durch den grauen Beton-Fußboden. Schüchtern entfaltete es seine zartgrünen Wedel. Wahrscheinlich hatten Tauben für den neuen Mieter gesorgt. Apropos Tauben. Die hörte man überall im Gebäude gurren. Manchmal unterbrach auch ihr wildes Geflattert die Stille. Still war es wirklich in der Scheibe A. Nach hier oben drang kaum ein Laut vom gut frequentierten Platz an der Neustädter Passage. Ungestört konnte man die vorbeieilenden Passanten durch die großen verdreckten Fenster beobachten. Auch die längst schon sanierten Hochhäuser ringsum die marode Platte hatte man gut im Blick.
Bunte Kinder-Welt
Ziemlich weit oben in Scheibe A war einst eine Kindereinrichtung untergebracht. Davon zeugten die bemalten Wände.
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