Rotterdam gilt als die Architektur-Hauptstadt der Niederlande. Ich wollte wissen, ob die Bauwerke dort wirklich so avantgardistisch sind, wie ihr Ruf. Deshalb reiste ich in die Metropole, die den größten Tiefwasserhafen Europas beherbergt. Eine Woche lang ließ ich Rotterdams verrückte Architektur auf mich wirken. Und um es vorweg zu nehmen: Das imposante Experimentierfeld internationaler Architekten faszinierte mich.
Schwärmerei im Café
Mein Entschluss reifte in einem originell ausstaffierten Café in Amsterdam. Am Nachbartisch war eine Frau mit Selfies beschäftigt. Ich bot an, sie in dem hübschen Ambiente zu fotografieren. Danach kamen wir bei Kaffee und Kuchen ins Gespräch. Sie stammte aus Rotterdam. Und sie schwärmte von ihrer Heimatstadt. Von den netten Plätzen und Cafés, von den Einkaufsstraßen und von der modernen Architektur.
Das machte mich neugierig auf das „Manhattan an der Maas“. Also buchte ich Zugticket und Hotel. Und los ging’s.
Schon beim Verlassen des futuristischen Hauptbahnhofs dämmerte mir, dass meine Kaffeehaus-Bekanntschaft wohl recht haben könnte: Rotterdam sei eine Spielwiese für experimentelle Architektur. Das gigantische Dach der Centraal Station spannt sich weit über den Vorplatz hinaus. Irgendwie deutete ich das als Fingerzeig ins Zentrum. Und ich nahm den Hinweis für bare Münze.
Also dann mal los. Auf den Spuren von Rotterdams verrückter Architektur kam mir eine Vielzahl verrückter Gebäude in den Blick. Viel Glas und viel Farbe und noch mehr interessante Formen. Bei manchen Hochhäusern rätselte ich, wie die angesichts ihrer Gestalt nicht umkippen. Oder wieso auskragende Gebäudeteile nicht abbrechen. Manche Häuser erinnerten mich an überdimensionale Tetris-Teile, geschaffen zur Erbauung spielfreudiger Riesen. Spannend fand ich auch den Wohn-Komplex Calypso mit seiner abgeknickten Fassade.
Irgendwann gelangte ich zur Erasmusbrücke. Sie wirkte auf mich wie ein eleganter Brückenschlag über die Nieuwe Maas. Ein heftiger Regenschauer setzte meinem Entdeckerdrang in einem nahen Restaurant zunächst ein Ende. Also dann den hippen Stadtteil Kop van Zuid auf der anderen Uferseite für den nächsten Tag aufheben!
Apropos Schauer: Die Hinweise in einschlägigen Reiseführern über das Wetter in Rotterdam sollte man durchaus ernst nehmen. In der Stadt der Wolkenkratzer regnet es viel. Und gern auch plötzlich und heftig. Ich spreche aus Erfahrung.
Wohnen in gelben Würfeln
Gespannt war ich auf Rotterdams Kubushäuser. Gehört hatte ich viel darüber. Nun stand ich mittendrin in der kultigen Sehenswürdigkeit. Rings um mich die leuchtend gelben Würfel. Sie stehen jeweils auf einer Ecke auf grauen Betonsäulen. Alles erinnert an einen futuristischen Wald. Gefallen hat mir, dass ein Teil der Häuser als Brückenbauwerk konzipiert ist. Das überspannt die viel befahrene Hauptstraße Blaak.
Leute wohnen tatsächlich in den Würfeln, die seit den 80er Jahren zahllose Neugierige anziehen. Doch wie mag man wohl zwischen den jeweils sechs Flächen wohnen, fragte ich mich. Und ich fand die Antwort. Denn ein Kubushaus ist zum Museum umgewidmet.
So erklomm ich denn die steile Treppe. Die kleinen Räume sind so geschnitten, dass man mit herkömmlichen Möbeln sicher nicht viel ausrichten kann. Dennoch, die Einrichtungsideen sind passabel. Obwohl die Wohnanlage von außen zweifellos ein Hingucker ist, wohnen möchte ich nicht in so einem Haus. Das ist mir dann doch zu schräg. (Weitere Fotos von diesen schrägen Häuschen hier.)
Markttag unter buntem Dach
Einen Steinwurf vom Kubushäuser-Wald lockt die neue Markthalle. Sie sieht aus wie ein gestrandeter Wal, der mit weit aufgerissenem Maul die Besucher verschluckt. Außen befinden sich Wohnungen. Innen wird Obst und Gemüse verkauft. Und was sonst noch so benötigt wird in der Küche. Angeblich soll im Halleninnern ein Jumbojet bequem parken können. Ob das schon getestet wurde, glaube ich nicht. Denn so experimentierfreudig sind die Rotterdamer dann wohl doch nicht.
Hingucker in der Markthalle ist zweifellos das quietschbunte Dach. Das Gemälde zeigt eine Menge Fürchte. Jede von ihnen hat die Größe eines Kleinwagens. Auf einigen Ständen entdeckte ich Terrassen, manche mit Schirmen. Hier kann man in Ruhe sitzen und das quirlige Marktreiben unter sich beobachten. Was ich mir natürlich nicht entgehen ließ.
Schiefes Hochhaus mit Stütze
Dann zog es mich Richtung Süden. Nach Kop van Zuid. Das ist der modernste Teil der Hafenstadt. Die spektakuläre Skyline auf dem Wilhelmina-Pier grüßte mich schon vom gegenüberliegenden Ufer. Ohne Zweifel der Blickfang auf der schmalen Halbinsel ist „De Rotterdam“. Das kompakte Hochhaus-Emsemble besteht aus drei miteinander verbundenen Türmen. Sie sind jeweils 150 Meter hoch. Der Riese mutet an, als seien übereinander gestapelte Container plötzlich verrutscht.
Rotterdams neues Wahrzeichen wollte ich mir unbedingt aus der Nähe anschauen. Und auch den schrägen Hochhausturm daneben. Also rauf auf die schneeweiße Erasmusbrücke, die etwa 800 Meter über die Nieuwe Maas führt. An meiner Seite Fußgänger, Rad- und Autofahrer, natürlich jeder auf eigener Spur. Auch Straßenbahnen waren auf der Brücke unterwegs.
Auf der anderen Seite empfing mich rechter Hand zunächst der schiefe Turm von Rotterdam. Die Fassade des Telekom-Gebäudes ist bedenklich geneigt. Der vom Boden bis zur Mitte des Hochhauses reichende Pfeiler ist nur ein optisches Schmankerl. Denn das Haus benötigt natürlich keine Stütze.
Wohnen auf dem Wasser
Für die Schieflage des Telekom-Hauses lieferte Star-Architekt Renzo Piano übrigens eine schlüssige Begründung. Der Skyscrapper gehöre zum Hafen. Und schließlich seien die Kräne dort auch nicht alle gerade. Wobei ich in Rotterdam viele Kräne, allerdings keine schiefen, gesehen habe. Aber ich war ja auch nur eine Woche dort.
Übrigens lohnt ein Abstecher zum Rheinhafen. Hinter dem tomatenroten Luxor-Theater ankern drei große Plastik-Halbkugeln. Zusammen mit den schwimmenden Bäumen stehen sie fürs neue Wohnen auf dem Wasser. Das wachsende Areal heißt Floating-Forest. Hier überraschte mich der nächste Regenguss. Also merken: Schirm immer einstecken.
Zwischen Türmen eingekeilt
Früher legten vom Wilhelmina-Pier die Auswandererschiffe ab. Ihr Ziel: Amerika. Heute ankern hier die Ozeanriesen aus aller Welt. Sie spucken hunderte bis tausende Passagiere aus, die zum Stadtbummel ausschwärmen. Als ich Rotterdam besuchte, lag hier grad die 335 Meter lange „World Dream“. Den farbenfroh gestalteten Rumpf nutzten ein Pärchen und sein Fotograf für Hochzeitsbilder.
Den Pier wollte ich nicht verlassen, ohne an dessen Spitze noch ein paar Minuten ins Hotel „New York“ reinzuschauen. Das frühere Hauptquartier der Holland-Amerika-Linie ist heute ein Luxushotel. Die Edelherberge mit den beiden Uhrtürmen behautet sich ziemlich souverän zwischen den beiderseits hochschießenden futuristischen Hochhaustürmen. Einer der Hingucker ist das Apartmenthaus Montevideo.
Avantgardistisch sieht die Verschachtelung der Gebäudeteile schon aus. Aber für mich war das „New York“ dann doch der Favorit auf dem Pier. In der kleiner Lobby plauderte ich mit dem netten Portier. Damit ich mich ein wenig einlesen kann in die Geschichte des Hauses, reichte mir der Herr in roter Weste eine Broschüre. Und wollte für meinen Web-Beitrag auch unbedingt aufs Foto. „Vielleicht kann ich Sie hier bald als Gast begrüßen“, sagte er zum Abschied. Ja, vielleicht.
Dann musste ich mich beeilen. Meine Verabredung wartete im nahe gelegenen Nhow Hotel. Von dort oben wollte ich mir Rotterdams verrückte Architektur aus einer anderen Perspektive ansehen. Das Designhotel befindet sich im Gebäude „De Rotterdam“. Nur Gäste haben Zutritt. Allerdings kann man mit dem Lift in die 7. Etage fahren. Hier liegt die öffentlich zugängliche Hotelterrasse. Von der schaute ich auf die Maas, auf die vorbeifahrenden Schiffe, auf die Erasmusbürcke und auf die Altstadt. Auf der Terrasse entstand auch das Titelfoto mit dem knallroten n. Lies auch Rotterdams Kubushäuser.
Kunstdepot im Blumentopf
Mit diesen Highlights ist der quirligen Stadt noch längst nicht die Puste ausgegangen. An allen Ecken und Enden der Stadt drehen sich die Baukräne, wachsen Hochhäuser aus dem Boden, wird Neues geschaffen. Für mich der spektakulärste Neuzugang, den Rotterdams verrückte Architektur zu bieten hat, ist das Boijans van Beuningen Museum. Der noch im Bau befindliche Kunstspeicher im Museumspark mutet an wie ein gewaltiger Blumentopf. Seine Fassade spiegelt Himmel und umliegende Architektur. Wer den runden Spiegelbau umkreist, findet in jeder Position ein interessantes Fotomotiv. Der avantgardistische Neubau hielt mich einige Zeit auf Trab. Trotzdem war ich etwas enttäuscht, weil ich nicht in die Schüssel reinschauen konnte. Das geht erst ab 2021. Also ein weiterer Grund, wieder nach Rotterdam zu fahren.
Europas erster Wolkenkratzer
Rotterdams verrückte Architektur zeigt sich gern auch dezenter. Ein Beispiel ist das Schielandshuis. Mit herrschaftlichem Portal und weißer Fassade ist es ein Hingucker. Nach dem Gebäude suchte ich übrigens geraume Zeit vergeblich. Dabei hatte ich es schon am Ankunftstag fotografiert. Allerdings von der Rückseite. Die ist terrakottafarben. Erst am letzten Tag entdeckte ich das Entree.
Dafür lag das Witte Huis buchstäblich auf dem Präsentierteller. Gleich hinter den Kubushäusern und einem Hafenbecken schraubt es sich 45 Meter in die Höhe. Das Weiße Haus war der erste Wolkenkrater Europas. Und zudem auch das höchste Bürogebäude des Kontinents. Das Jugendstilhaus überstand als eines der wenigen Gebäude von Rotterdam die Bombardierung im II. Weltkrieg. Im Parterre befindet sich ein Café. Dort konnte ich sitzen. Der Zugang zur Aussichtsplattform, um einen anderen Blick auf Rotterdams verrückte Architektur zu bekommen, blieb mir jedoch verwehrt. Was aber nicht sonderlich betrüblich war. Schließlich gibt es in der zweitgrößten Stadt der Niederlande genug zu sehen. Und ich kann jetzt meiner zufälligen Kaffeehaus-Bekanntschaft in Amsterdam zustimmen: Rotterdam ist wirklich eine Spielwiese für außergewöhnliche Architektur-Ideen.
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